Der ungeliebte Bruder

Das Viltrox 23mm/1,4

Eines der ersten Objektive, das der chinesische Hersteller Viltrox 2021 auf den Markt warf, war das 23mm mit einer Offenblende 1,4. Die einschlägigen Tester verhielten sich lobend, wenn auch nicht überschwänglich. Die Verarbeitung war trotz des bemerkenswert attraktiven Preises überraschend gut, Gehäuse aus Vollmetall bis hin zur Streulichtblende aus gleichem Material. Ein paar Einzelheiten wurden bemängelt, so die fehlende Rastung beim Blendenring und der angeblich hörbare Autofokusmotor. Letzteres ist bei dem vorliegenden Modell zu vernachlässigen, während die fehlende Rastung eine Frage der Gewöhnung darstellt. Immerhin wird die aktuell eingestellte Blende im Display angezeigt, ein Komfort, von dem Fotografen im vorigen Jahrhundert nur träumen konnten.

Was soll man anfangen mit 23mm, wenn doch 27 und 13mm schon im Schrank stehen und die Standardzooms bei 16 oder 18mm anfangen? Mit etwas Überlegung und Nachrechnen entspricht die vorliegende Brennweite einem Äquivalent von 34,5mm übertragen auf das Kleinbildformat, eine Brennweite, die nahezu den klassischen Weitwinkelobjektiven aus grauer Vorzeit entspricht. Wer früher eine sogenannte Standardbrennweite von 50mm besaß, legte sich gern die 35mm daneben. Lichtstarke Weitwinkel-Linsen wie das berühmte Flektogon erzielen heuer immer noch beachtliche Preise auf dem Gebrauchtmarkt.

Die Brennweite galt damals als vielseitiger als die reguläre Standardlinse. Im Gegensatz zu heute legte der Alltagsfotograf einen hohen Wert auf eine große Schärfentiefe, was beim 35er Flektogon abgeblendet auf 5,6 oder 8 zugleich eine angenehme Gesamtschärfe erzielte. Heute sind derlei Modelle bei den Streetfotografen beliebt, weil sie einen größeren Bildausschnitt als den eigenen Blickwinkel gestatten. Die inzwischen üblichen Offenblenden wie z.B. beim vorliegenden Viltrox lassen zudem interessante Gestaltungsspielräume hinsichtlich Freistellung und Bokeh zu.

Viltrox brachte kurz darauf weitere Brennweiten in gleicher Bauweise heraus und übte sich hinsichtlich Verarbeitung und Abbildungsleistung. Mit jedem neuen Produkt konnte die Marke bisher die Qualität steigern. So soll es sein!
Das 23er wirkt bei Offenblende nicht ganz so knackscharf, wie seine baugleichen Brüder, nicht zu reden von den inzwischen in der Profiklasse angesiedelten 1,2er Linsen 27 und 75mm. Und doch hat das Modell seine Berechtigung, will man im SW-Modus den alten Look der 50er und 60er Jahre erzeugen, denn gerade dafür sind die Fujis sehr gut geeignet. Zudem ist der Preis auf dem Gebrauchtmarkt geradezu lächerlich. Der schlechte Ruf, der dem 23er vorauseilt, wird durch die Praxis nicht bestätigt.